Die zweite Mannschaft des TuS Vielstedt steht auf dem letzten Tabellenplatz der 5. Kreisklasse in Niedersachsen, Oldenburg-Land/Delmenhorst. Mit 34 geschossenen und 107 kassierten Toren in 20 Saisonspielen hat die Mannschaft die schlechteste Abwehr und den miesesten Sturm der Liga.
Vielstedt ist ein Ortsteil von Hude, einer Gemeinde mit 16.000 Einwohnern. Wer ein Heimspiel von Vielstedt II besuchen will, parkt an den Sportanlagen der Peter-Ustinov- Schule in Hude. Am Rand der gepflegten Plätze des FC Hude weist ein verwittertes Schild den Weg zum „Sportplatz Vielstedt“. Ein paar Schritte bergab, unten liegt der Rasenplatz von Vielstedt II.
Der 17. Spieltag der Saison 2018/19 beginnt mit Regen. Eine Viertelstunde vor Anpfiff bespricht der Trainer des FC Huntlosen II mit seiner Mannschaft ein letztes Mal die Taktik. Die Spieler des TuS Vielstedt trotten vereinzelt auf den Platz und pfeffern ihre Wasserflaschen vor eine heruntergekommene Holzhütte, die ihnen als Treffpunkt dient. Die grüne Farbe eines verwitterten, außer Betrieb genommenen Trafokastens neben der Hütte, ist kaum zu erkennen. Im Kasten lagern Bälle, Fahnen, der Kreidewagen und Leibchen.
Das Hinspiel der beiden Mannschaften endete 2:2, das Unentschieden war bis zum 17. Spieltag der größte Erfolg der Saison für Vielstedt II.
Mit eingezogenen Köpfen und zusammengekniffenen Augen stemmen vier Mann in roten Vielstedter Trikots eines der Tore auf Position und befestigen es mit Heringen. Das Netz aus Nylon ist zu stramm gespannt und hat ein Loch in der linken Seite. Ein anderer Spieler steckt die Eckfahnen in den Platz. Der ist so uneben, dass man von der einen Seite die Füße der Spieler auf der anderen Seite nicht sieht.
„Ich will meinen Pulli am liebsten gar nicht ausziehen“, jammert der Spieler mit der Nummer 11, Arend Arends und guckt gequält nach oben. Zwei andere Spieler traben ein paar Schritte.
Arend Arends ist Spieler der ersten Stunde des TuS Vielstedt. Er ist Mitgründer und war 2. Vorsitzender des Vereins. Inzwischen ist er Trainer in Delmenhorst. Bei Vielstedt II spielt er als Libero. Er will, dass viele Aktionen über ihn laufen. Er redet viel und gibt gern Anweisungen.
Auf der anderen Rasenseite wärmt sich Huntlosen II mit Intervallsprints auf. Christian „Krizzy“ Meyer, Rückennummer 14, 35 Jahre, joggt als Einziger der Vielstedter Jungs über den Rasen und wärmt sich auf. Die anderen Vielstedter sehen das mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie sitzen auf der Ersatzbank. „Aufwärmen braucht sich hier keiner. Wenn man sich nicht bewegt, kann man sich auch keine Zerrung holen“, erklärt Mario Haverkamp und zündet sich eine Zigarette an.
Mario „Katze“ Haverkamp, Nummer 26, 27 Jahre, stand früher bei den ersten Herren in der 2. Kreisklasse im Tor. Weil er auf dem Feld spielen wollte, wechselte in der letzten Saison zu Vielstedt II.
Wie vor jedem Spiel zählt Alex, ob genug Spieler da sind. Wie immer kommen von den 30 gemeldeten Spielern im Kader zu wenige zu den Spielen.
Alexander-Martin „Alex“ Koch, 35 Jahre, ist seit drei Jahren erster Vorsitzender des TuS Vielstedt und spielt für die ersten Herren des Vereins. Dank eines kulanten Arbeitgebers kann er Training, Spiele und die sonntäglichen Treffen zur Vereinsorganisation beider Mannschaften, mit seinem Beruf als Wirtschaftsberater vereinbaren. Alex entsperrt sein Handy und wundert sich: „Der Torwart und ein Spieler fehlen, die hatten eigentlich beide zugesagt.“
Spielermangel, Verletzungen, Niederlagen
In der 5. Kreisklasse sind einige Teams, auch Vielstedt II, als „9er Mannschaften“ gemeldet. Bekommt Vielstedt II keine 13 Spieler zusammen, wird mit neun gekickt, der Gegner spielt dann auch zu neunt.
Den Spielermangel der zweiten Herren gleicht Alex oft mit persönlichem Einsatz aus: „Immer wenn ich frei bin, versuche ich auszuhelfen“. Frei ist er, wenn er zwei Spiele hintereinander in der ersten Mannschaft nicht gespielt hat. Warum fehlen die Spieler? „Ein paar haben keinen Bock, ein paar sind im Urlaub, ein paar waren feiern“, erklärt Alex.
Die Mannschaft organisiert sich über eine App, bei der jeder Spieler sich an- oder abmelden kann. „Die Spieler müssen keine Gründe für Absagen angeben, es ist nicht so, dass jemand sagt: ‚Ich spiel zu schlecht‘, oder ‚Wir verlieren hier immer nur‘, sondern die Spieler kommen einfach nicht mehr.“
Angesichts der vielen Niederlagen fehlt einigen Spielern die Motivation. „Dafür bin ich da“, sagt Alex, „egal wie schlecht gespielt wurde, wir müssen die Leute motivieren. Jeder braucht sein Erfolgserlebnis. Wenn wir ein paar Spiele unentschieden spielen, motiviert das die Mannschaft ungemein. Das hat erst mal nichts mit dem Tabellenplatz zu tun.“
Zwei Stunden täglich beschäftigt sich Alex mit der Organisation des Vereins. Weil Vielstedt kein Vereinsheim hat, nutzt er einen zehn Quadratmeter großen Raum neben der Jahnhalle als Büro. Dahinter liegt ein Kabinengang mit sechs Kabinen und Duschen. Vielstedt und die gegnerischen Mannschaften dürfen die ersten beiden Kabinen und Duschen nutzen.
Einige Mannschaften irritiert das. „Wenn die Spieler in die Kabine gehen, gibt es manchmal Kommentare wie: „Ey wo sind wir denn jetzt gelandet“, erzählt Alex, „wenn sie sehen, dass wir Kabinen einer Schulturnhalle nutzen, realisieren sie, dass wir ein sehr kleiner Verein sind.“
Es gibt gegnerische Spieler, die befürchten, „dass wir hier auf einem Acker spielen. Wir sind ein Ortsteil von Hude, einige Leute denken, dass wir Bauern sind. Das war früher so, jetzt haben wir viele Leute die studiert haben und aus Oldenburg oder Bremen kommen. Trotzdem sind wir immer ein bisschen der Underdog“, sagt Alex. „Der FC Hude ist der große, Vielstedt der kleine Verein“, sagt Sascha.
Sascha Afken, 29 Jahre, kommt zum Zuschauen. Spielen kann er seit dem Riss seines rechten Knieinnenbandes vor zehn Jahren nur noch selten. Das Trikot mit der Nummer 90 und seine Stollenschuhe trägt er aus Gewohnheit. Er wird als Trainer der Mannschaft geführt, damit die Regeln des niedersächsischen Fußballverbands erfüllt sind. Gemeinsam mit dem Vorstand des TuS Vielstedt übernimmt er organisatorische Aufgaben und hilft dabei, die Mannschaft zusammen zu halten.
Auf seiner Website wirbt der Verein für die zweite Herrenmannschaft mit dem Spaß am Fußball und „Kicken ohne Trainingsverpflichtungen“. Alex sagt: „Wir geben jedem eine Chance, nur Rechtsradikale haben wir nicht gern.“
Der Nachwuchs fehlt
Vielstedt hat in beiden Mannschaften Probleme, es gibt keine Nachwuchsmannschaften. „Als ich Mitglied des Vorstands wurde, hatte ich Ziele, wie man Jugendmannschaften aufbaut. Wir können ja nicht einfach von anderen Mannschaften Spieler abgreifen. Wir hatten versucht mit dem TV Hude eine Kooperation zu bilden: Die Familien zahlen einen Beitrag und können dann bei Vielstedt Fußball spielen und bei Hude Leichtathletik machen.“ Das hat nicht geklappt. „Es gab die Angst, dass wir Hude die Spieler wegnehmen“, erklärt Alex.
So steht bei jedem Spiel eine anders zusammengewürfelte Mannschaft auf dem Platz. Zuschauer, bei Heimspielen bis zu zwei, bei Auswärtsspielen schon mal 30, lernen die Spieler des TuS Vielstedt II erst im Verlauf der Saison kennen.
Im Spiel gegen den FC Huntlosen hilft sich die Mannschaft selbst: „Ich kann höchstens eine Halbzeit rein“, sagt Alex drei Minuten vor Anpfiff. „Ob Hans das so gut findet“, fragt Wolle und stützt die Hände in die Hüften.
Wolfgang „Wolle“ Schwarze, 58 Jahre, kreidet den Platz der zweiten Herren. Hans Borchers war bis Ende der Saison 18/19 Trainer der ersten Herren.
„Also ich mach heute wenig hinten“, sagt die Nummer 5, Andy Stein. Andy, Mitte 30, ist ein Arbeitskollege von Alex und zum TuS Vielstedt II neu dazugekommen.
„Ich hol nur die Bälle aus dem Tor“, kündigt Mirco Drieling an, Anfang 30, mit dem Trikot Nummer 6, Abwehrspieler. Alex fragt Sascha: „Kannst du spielen?“ Sascha antwortet: „Knie“ Mario frotzelt: „Du tust mir ein bisschen Leid, meine Bandscheibe fliegt bis nach Meppen, aber ich spiel trotzdem.“ Alex braucht noch einen Keeper: „Gehst du ins Tor?“, bittet er Mario.
Mario seufzt: „Hab ich da Bock zu?“ Damit ist es entschieden. Er kneift die Lippen zusammen, greift in seine Sporttasche und zieht eine schwarze Hose heraus. „Ich kenn‘ ja den Verein. Habe natürlich zur Sicherheit die Torwarthose dabei. Zum Glück habe ich genug Frust-Bier mit.“
Die nächsten drei Angriffe scheitern am Keeper
Eine halbe Minute vor Spielbeginn steht fest: Vielstedt kickt mit fünf Mann in der Abwehr, Alex ersetzt einen der Außenverteidiger. Der Anpfiff kommt, wie häufig in der 5. Kreisklasse, fünf Minuten zu spät.
„Katze!“, lobt Sascha von der Ersatzbank, als Mario den ersten Schuss von Huntlosen II hält, indem er in die rechte, obere Ecke des Tores fliegt. Auch die nächsten drei Angriffe scheitern am Keeper.
Die unterschiedlichen Rottöne der Trikots und verschiedenfarbigen Stutzen ergeben ein unruhiges Bild auf dem Feld. Auch die Hosen haben nicht dasselbe Rot. Auf den Trikots steht, wie bei den Profis, der Nachname des Spielers. Jeder Spieler hat seine Sachen selbst gekauft und nimmt sie zum Waschen mit nach Hause. Einige Trikots sind zu klein. Als der Ball ins Gebüsch fliegt und ihn einer der Vielstedter Spieler sucht, zupft Zeynal, Rückennummer 73, an seinem Trikot und streicht über seinen Bierbauch.
Zeynal „Sinan“ Kaya, 26 Jahre, gehört zu den Spielern der zweiten Herren, die unregelmäßig zu den Spielen kommen. Wenn er da ist, macht er die Aufstellung. „Wir werden eh Letzter, das ist okay“, findet Zeynal. Beim Auswärtsspiel gegen Benthullen saß er auf der Ersatzbank. „Halt mal die Flasche“, sagte sein verletzter Nebenmann und verschwand hinter den Bäumen. Zeynal nahm die Bierflasche, trank einen Schluck und als der Baumpinkler zurückkam, wechselt er sich selbst ein.
Eine Viertelstunde nach Anpfiff ist das Gebrüll des Trainers des FC Huntlosen bis zur Bundesstraße zu hören. Neben ihm sitzen fünf Auswechselspieler und warten auf ihren Einsatz. Auf der Bank von Vielstedt II, dort sitzen Sascha und Wolle. Die sind still.
Als keiner zum Training kam, gab der Trainer und Zweite Vorsitzende Andreas Roske auf. Seitdem organisieren sich die Zweiten Herren selbst. Drei Spieler von Vielstedt II gehen zweimal in der Woche zum Training der Ersten Herren. „Sie ziehen die Mannschaft mit, können viel mehr laufen, aber es fehlt diese große Bindung, die früher mal bestand“, sagt Alex.
Einwurf für Vielstedt in der Nähe der Mittellinie. Der Spieler mit der Rückennummer 25 will vom gegnerischen Strafraum zum Ball rennen. „Wali, nein!“, brüllt Arend von der Mitte des Platzes aus. Er meint, dass sich das nicht lohnt. Wali dreht um und läuft zurück.
Wenige Minuten später rennt Wali vom anderen Ende des Felds zum Ball. „Los, Wali, komm‘ schon“, feuert ihn die Mannschaft diesmal an, als wäre er der einzige Spieler auf dem Platz.
Wali Amiri, Nummer 25, von hagerer Gestalt, wurde 1987 in Charikar geboren, in der Provinz Parwan in Afghanistan. Er kam 2016 als Flüchtling nach Deutschland. Während des Spiels sagt er kein Wort und beobachtet interessiert, wie der Gegner spielt. Wenn sich keiner aus seiner Mannschaft rührt, läuft er los.
Nach einem Zweikampf hält sich Wali die Hand vor das Gesicht. Ein dünnes Rinnsal Blut läuft von seiner Nase. „Ach! Wali blutet!“, ist Sascha alarmiert, bleibt aber auf der Bank sitzen. Wolle geht Wali entgegen. „Ein bisschen Wasser“, sagt Wali mit hartem Akzent.
Wolle zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hält es Wali hin. Dann verschwindet er im Holzhaus und holt eine rote Tasche. Inzwischen ist Sascha aufgestanden. Beide beugen sich über die rote Tasche und suchen. „Hast du denn kein Pflaster?“, fragt Sascha. „Nur bisschen Wasser“, bittet Wali. Wolle benetzt ein Taschentuch mit Wasser und hält es Wali hin. Der wischt sich damit über die Nase und rennt zurück aufs Feld.
Als zwei Mann von Huntlosen aufs Vielstedter Tor zulaufen, verstellt ihnen Christian den Weg. Mit weit zurückgestreckten Armen und nach hinten gelehntem Oberkörper tritt er vorsichtig gegen den Ball. Es sieht aus, als würde er den großen Zeh in sehr kaltes Wasser halten. „Krizzy, keine Angst!“, ruft Sascha.
Bei Christian konnte die Mannschaft die größte Entwicklung miterleben. Er kam 2001 mit 125 Kilogramm Gewicht in die Mannschaft. Innerhalb eines Jahres nahm er 30 Kilogramm ab. „Weniger Döner, weniger Cola, weniger PC-Spiele“ erklärt er. Er läuft täglich fünf Kilometer und trainiert für einen Halbmarathon. Das hat ihn in der Mannschaft weit nach vorn gebracht. Den Ball behandelt er nach wie vor wie ein rohes Ei.
Der nächste Torschuss von Huntlosen. Mario hält erneut. „Bahnschranke, haste gesehen was?“, jubelt er Richtung Ersatzbank. Dort wird er beklatscht. „Die nächsten vier Schüsse nicht auf den Torwart bitte“, ruft der Stürmer von Huntlosen II seinen Mannschaftskameraden zu. „Aber in meine Hand“, ergänzt Mario grinsend.
Huntlosen wechselt den vierten Spieler ein. „Vier Mal auswechseln, das würd’ ich auch gern mal. Bei denen wird ja die halbe Mannschaft erneuert“, brummt Sascha.
„Schiri, wie lange noch?“, ruft Alex und schaut zum Spielfeldrand. Er weiß, dass sein Trainer Hans Borchers zur Halbzeitpause auftaucht, weil dessen Team im Anschluss ein Spiel hat. Borchers darf nicht sehen, dass er für die Zweite kickt, weil er damit seine Spielberechtigung für die Erste riskiert. Alex verlässt das Feld und zieht sich in der Hütte um. Gerade noch rechtzeitig.
Acht Minuten vor Ende der ersten Halbzeit stellt sich ein Mann mit Schnauzer, Mitte 60, hinter die Seitenlinie. Hans Borchers starrt auf den Platz: „Wie steht es?“, fragt er. „0:0“, kommt die Antwort. „Wer ist im Tor? Ah. Mario. Deswegen steht es 0:0“, brummt Borchers. Gleich darauf geht er. Hat genug gesehen.
Der Halbzeitpfiff ertönt, die Jungs kommen vor der Hütte zusammen. „Hab ich mir schlimmer vorgestellt heute, das geht sogar“, sagt Mario und gönnt sich eine Zigarette.
„Alex ist jetzt ja raus, wir brauchen wen“, sagt Sascha und macht sich auf die Suche nach einem Ersatz. Kurz vor Ende der Pause taucht ein schlaksiger Blonder auf und klatscht die Vielstedter Jungs ab. Hauke Behrens ist zum Zuschauen gekommen.
„Hey, Hauke, kannste nicht spielen?“, fragt Alex. „Ich hab gar nichts mit. Habt ihr ‘ne Hose, ein Trikot?“, sagt Hauke. Alex nickt. Hauke fragt nach Schuhen. Alex holt einen Karton mit neuen Fußballschuhen aus dem Trafokasten. Zwei Minuten später ist Hauke spielbereit.
„Schiri wir melden nach! Hauke, welches Jahr biste nochmal geboren? 1996? O Gott, biste noch jung“, ruft Arend. Schiedsrichter Lothar Hartwig notiert sich die Trikotnummer und verlängert die Halbzeitpause um fünf Minuten.
Es hält ihn nicht mehr im Tor, er läuft auf den Platz
Ab der 59. Minute zieht Christian den linken Fuß nach. „Bei Krizzy geht‘s nicht mehr“, nickt Wolle. „Aber wir haben keinen anderen“, sagt Sascha. „Krizz, komm her“, ruft Wolle. „Willste mich abmelden oder was?“, antwortet Christian. Er will seine Mannschaft nicht im Stich lassen. Erst als Wolle die Pferdesalbe hochhält und ruft: „Ich hau dir was drauf“, humpelt Christian vom Platz.
Vom Tor aus sieht Mario die Schwächen seiner Mannschaft und gibt Anweisungen: „Füllt die Lücken aus, weiter nachrücken, Jungs.“ Irgendwann hält es ihn nicht mehr im Tor, und er läuft auf den Platz.
Eigentlich schon wieder ein geiles Spiel.
„Keeper – hör auf damit“, fordert Arend. Mario überrennt einen Spieler von Huntlosen und nimmt den Ball an. Er passt rüber zu Christian, der den Ball sofort verliert. Huntlosen reagiert schnell. Gerade noch rechtzeitig ist Mario zurück im Tor und kann den Ball halten. „Eigentlich schon wieder ein geiles Spiel“, sagt Mario.
Die Tore von Huntlosen in der 69. und 89. Minute trüben die gute Stimmung nicht. Vielstedt verliert am 17. Spieltag mit 0:2 und bleibt mit drei Punkten Tabellenletzter. Am Saisonende werden es der letzte Platz und sechs Punkte sein.
„Ich hab gemerkt, wie langsam ich bin“, sagt Mario, als er seine Torwarthandschuhe auszieht. Drei Spieler von Huntlosen II kommen und geben ihm die Hand. „Respekt“, „Super Leistung“, „Brutal guter Torwart!“ Auch die Spieler der eigenen Mannschaft klopfen Mario auf die Schulter. Jeder weiß, wie unbeliebt die Position des Torwarts ist, alle sind froh, dass Mario eingesprungen ist.
Uns fehlt das Training
„Früher hätte man mit so einer Truppe eine andere Mannschaft schlagen können. Das fällt immer schwerer, die Kreisklassen haben sich entwickelt“, analysiert Alex, „man merkt, dass uns das Training fehlt, die Passquoten sind nicht hoch. Man sagt sich ‚Das kriegen wir schon irgendwie hin‘, aber wenn wir verlieren, ist es auch egal.“
Neben dem Fußball stemmt der TuS Vielstedt als größter Anbieter die „Ferienspaß“- Aktion in den Sommerferien. Für 60 Kinder von acht bis 14 Jahren organisiert der Verein jährlich Fahrradtouren, Camping und Nachtwanderungen. „Das sind Sachen, die wir nebenbei machen. Uns selbst bringt das nichts, denn die Kinder spielen dann beim FC Hude Fußball, oder machen andere Sportarten“, sagt Alex.
Auch die Zahl der Zuschauer steigt durch „Ferienspaß“ nicht. Der einzige Zuschauer, der sich die Spiele von Vielstedt II länger als eine Halbzeit ansieht, spricht kaum Deutsch und hält sonntags mit seinem Rad hin und wieder am Platz an.
Im Spiel Vielstedt II gegen Bookhorn II, 18. Spieltag, setzen sich vier Jungs auf die Vielstedter Ersatzbank. Sie sind zwischen zehn und 15 Jahre alt. Vielstedt II beginnt schwach. Zur Halbzeit steht es 0:3. Die Anweisungen von Spielmacher Arend werden nicht umgesetzt. Marco Bergmann-Osterloh im Tor, Mitte 40, ist zu langsam.
„Wie schlecht ist Vielstedt denn?“, fragt eines der vier Bürschchen. „Guck mal, die schießen die Bälle ins Aus“, weiß sein Nachbar. Auch ein Fehlpass von Arend wird kommentiert: „Was sind das für Pässe? Was machen die da? Das ist ja gar nichts!“ Der Dritte nörgelt: „Ist das die Erste Herren? Wo ist überhaupt der Trainer?“. Er öffnet die Fußball-App auf seinem Smartphone. Als er feststellt, dass hier Vielstedt II spielt, verlassen die Schlaumeier den Platz.
War das ein Tor für uns? – Ne, das war Arend.
An der Seitenlinie steht Sascha, er hat sich mit der Niederlage abgefunden und nimmt das Spiel seiner Mannschaft mit Humor. „War das ein Tor für uns?“, fragt ein Spieler von Vielstedt II. „Ne, das war Arend“, antwortet Sascha.
Kurz vor der Halbzeit erkämpft sich Zeynal den Ball, umspielt einen Gegner und läuft dann ins Aus. Der Schiedsrichter pfeift. Ein Zuschauer hinter der Seitenlinie macht Zeynal zur Schnecke: „Die 73 macht nur Scheiße. Solange ich hier zugucke, ist der schon immer eine Gurke gewesen.“ Gleich darauf ist der Zuschauer verschwunden.
Mario „Katze“ Haverkamp, diesmal auf dem Feld, unternimmt einen Versuch, ein Tor zu schießen. „Jawohl, Rakete“, feuert Sascha den um Tempo bemühten Mario an. Mario rennt allein aufs gegnerische Tor zu. Er verliert den Ball und trabt entmutigt zu seiner Wasserflasche. „Ich bin zu fett für den Scheiß“, jault er.
In der Halbzeit holt Arend die Jungs zur Taktikbesprechung zusammen: „Das war ein Chaos, jeder hat irgendwo gespielt. Im Aufbau spielen wir schlechte Pässe, wir haben nicht einen schnellen Mann“, sagt er. Torwart Marco will in der zweiten Halbzeit auf dem Feld spielen. Arend klagt über Leistenprobleme und geht ins Tor.
Marco erzielt in der 80. Minute ein Tor und freut sich, in der 87. Minute hat Zeynal mit einem Torschuss Erfolg. Am meisten überrascht ist er selbst. Arend kann vier weitere Tore für Bookhorn nicht verhindern. Die Partie endet 2:7.
Die Jungs geben den Bookhornern die Hand, bauen dann wortlos Tor und Eckfahnen ab. Ein paar treffen sich an der Ersatzbank auf ein Bier, ein paar gehen direkt in die Umkleide. Geredet wird sparsam.
Auswärtsspiel an einem Mittwoch gegen den FC Hockensberg. 19. Spieltag. Das Spiel wird auf 19 Uhr vorgezogen, da kein Flutlicht vorhanden ist. „Parken auf eigene Gefahr, alte Bäume“, warnt ein Schild auf dem Parkplatz in Hockensberg, Gemeinde Dötlingen, Landkreis Oldenburg. Der Sportplatz liegt mitten im Wald. Ein Kuckuck ruft. das Quaken der Frösche vom benachbarten See ist zu hören, dann und wann landet ein Ball im See.
Beim Anlauf zum Eckball verbrennen sie sich an Brennnesseln
Auf den ersten Blick sieht der Platz gut bespielbar aus, ist jedoch nicht besser als der in Vielstedt. Nur die Eingeweihten wissen, dass im Herbst in Hockensberg nicht gespielt werden kann, weil die Bäume drei Meter über das Spielfeld ragen und der Platz von Eicheln übersät ist. Beim Anlauf zum Eckball verbrennen sich die Spieler an kniehohen Brennnesseln.
Neun Zuschauer sitzen unter dem Dach eines Unterstands aus Holz und feuern Hockensberg an. Die Männer, Bier in der Hand, die Frauen schauen nach den Kindern, die ihren Papa auf dem Feld suchen.
In der 18. Minute fällt das erste Tor für Hockensberg. „Immerhin fast 20 Minuten die Null gehalten“, lobt Zeynal. Er steht hinter der Seitenlinie auf dem linken Bein und zieht den rechten Fuß zum Gesäß hoch. Dann wühlt er in seiner Tasche und steckt sich eine weiße, längliche Tablette in den Mund. „Ich versuche gleich mal, ob es geht, vielleicht kann ich doch spielen“, sagt er zu Christian. Auch der steht verletzt am Spielfeldrand.
Vielstedts Nummer 6 und die 13 von Hockensberg treten sich in die Hacken. „Dass du auch immer gleich anfängst zu heulen“, motzt Mirco, auch als „Sense“ bekannt, seinen Gegenspieler an. „Jetzt ist Ruhe. Auf meinem Platz wird nicht rumgeschrien“, beendet Schiedsrichter Markus Deitenbeck das Gekeife. Er hat früher höhere Ligen gepfiffen. Mirco gibt dem Schiri die Hand. „Mirco hat noch nie jemandem die Hand gegeben, Respekt!“, sagt Zeynal. Der Ball fliegt in den Wald, gelassen macht sich der Hockensberger Torwart auf den Weg.
Kurz nach der Halbzeit verlässt Jannik Wefer, Nummer 28, 29 Jahre, den Platz. Der Auszubildende der Polizei Oldenburg zollt der Englischen Woche Tribut. „Sonntag gespielt und heute, das ist zu viel. Na ja und wenn man gesehen hat, welche Leute die reingebracht haben“, sagt er und nickt mit dem Kopf zu Tobias Kern hinüber, Stürmer bei Hockensberg und mit 46 Toren bester Torschütze der 5. Kreisklasse.
„Schieß einfach“, ruft Zeynal bei Vielstedts einziger Torchance in der zweiten Halbzeit. Der Ball hoppelt neben der Eckfahne ins Aus. Zeynal stellt fest: „Wir sind einfach nicht gut.“ Hockensberg gewinnt 8:0 und feiert Sieg sowie Aufstieg mit Bier, Bollerwagen und Musik. „Ich habe nicht einen Verteidiger bei uns gesehen“, brummt Max- Sebastian Lund, der bei Vielstedt das Tor hütete.
Am 26. Mai, dem 21. und vorletzten Spieltag, beim Derby gegen den FC Hude I, gewinnt Vielstedt die erste und einzige Partie der Saison. Im Huder Waldstadion vor einer Handvoll Zuschauern gibt es ein 4:6, Torschützen: Lukas Haar (20.), Markus Hildebrandt (41.), Florian Ischen (50.), Joris Müller (53.), Knut Osterloh (55.), Joris Müller (79.). Saisonbilanz: Sechs Punkte, ein Sieg, drei Unentschieden, 16 Niederlagen, Torverhältnis 34:107. Muss man erst mal aushalten.
Alex sagt: „Unser Ziel ist es, dass es den TuS Vielstedt II auch nächste Saison gibt. Die Frage ist: Wie viele Spieler machen weiter?“
Erschienen 2020, Buch: „Wenn Männer weinen“